Sucht: Wie erkenne und behandle ich sie?

I: Herzlich willkommen zu Von Achtsam Bis Zuckerfrei, dem Gesundheitspodcast der Audi BKK. In diesem widmen wir uns einer Vielzahl an Themen, die Körper und Geist betreffen. Hört man den Begriff Sucht, denken viele wahrscheinlich zunächst an Rauchen und Alkohol. Kein Wunder, denn in Deutschland sterben laut der Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung mindestens 127.000 Menschen jährlich an den Folgen von Tabak. Bei Alkohol sind es 20.000 Menschen. Bedeutend mehr sind abhängig. Doch es gibt noch etliche andere Dinge, nach denen man süchtig sein kann. Drogen, Glücksspiel, Internet, Zucker, Sport, Arbeit. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen. Auch wenn die individuellen Verläufe sehr unterschiedlich sein können, gibt es doch einige Gemeinsamkeiten, wie es überhaupt zur Sucht kommt und was man zur Vorbeugung tun kann. Für diese Folge konnten wir Diana Ganguin gewinnen, die schon über 20 Jahre Erfahrung in der Suchtberatung hat. Sie ist Abteilungsleiterin der Fachstelle für Sucht und Suchtprävention des Diakonischen Werkes, und auch sowohl Suchtberaterin als auch Suchttherapeutin speziell für Frauen. Herzlich willkommen Frau Ganguin. Würden Sie sagen, dass Sie selbst süchtig nach etwas sind?

B: Ich schaue für mein Leben gerne fernsehen, aber ich glaube nicht, dass ich süchtig bin. Aber es geht schon in die Richtung des missbräuchlichen Konsums. (lacht)

I: Spannend. Da haben Sie in mir aber eine Leidensgenossin gefunden, ich bin großer Serienjunkie. Da kenne ich mich auch aus. Aber da kommen wir doch gleich zu einem guten Punkt: Ab wann spricht man überhaupt von einer Sucht?

B: Wir sprechen von einer Sucht, wenn ein Konsummittel oder Verhalten nicht mehr kontrollierbar ist. Das heißt, wenn man es nicht mehr normal in den Alltag einbinden kann, wenn man ständig darüber nachdenkt, ständig damit beschäftigt ist. Wenn man den ganzen Alltag, die Arbeit, die eigenen Kinder diesem Konsumverhalten unterordne. Dann gibt es nicht ein Zuviel. Dass man zum Beispiel sagen würde, dass eine Flasche Wein am Abend zu viel ist. Tatsächlich können auch zwei Gläser am Abend zu viel sein. Das Wichtige ist, dass man guckt, inwieweit man noch ein normales Leben führt und inwieweit das eigene Suchtverhalten etwas ist, was einen sein Leben lang beschäftigt oder den Alltag bestimmt.

I: Auch wenn vielleicht die Gedanken nicht aufhören, darum zu kreisen und es einen nicht mehr loslässt?

B: Ja, genau. Wenn ich meine Interessen vernachlässige. Wenn man zum Beispiel früher viel zum Sport gegangen ist und dann beim Seriengucken denkt, dass man lieber auf dem Sofa liegen bleiben möchte. Man kümmert sich nicht mehr so viel um die eigene Familie, um regelmäßige Ernährung, um Körperpflege. Solche Sachen. Stattdessen bleibt man einfach liegen, macht nichts und konsumiert.

I: Es findet also eine Umpriorisierung im Kopf statt.

B: So kann man das nennen. Was wir als ein Diagnosekriterium im Suchtbereich sehen, ist wenn man negative Konsequenzen hat, trotzdem aber weiter am Suchtmittel festhängt. Das heißt, man hat schon ein Gespräch mit dem Partner gehabt, der hat gesagt, dass es ihm überhaupt nicht gefällt, was man da macht, dass man ständig vor dem Fernseher sitzt. Er sagt, dass er sich trennen würde, wenn man das so weitermacht. Und man entscheidet sich dann aber für den Fernseher und gegen den Partner. Das war jetzt natürlich ein lapidares Beispiel, aber sowas kommt gerade im Alkoholbereich relativ häufig vor. Da entscheiden sich Frauen für den Alkohol und gegen die Kinder. Die Frauen wissen, dass ihr Trinkverhalten eine Konsequenz haben wird, wenn es auffällt, sie entscheiden sich aber trotzdem für das trinken und nehmen die Konsequenz in Kauf. Das ist ein deutliches Anzeichen für eine Suchtmittelerkrankung und -abhängigkeit.

I: Aber warum kann man dann nicht einfach aufhören, wenn das einem schon auffällt?

B: Das ist eine spannende Frage. Das fragen auch alle Menschen, die zu mir kommen, warum sie nicht einfach aufhören können. Es ist ja eine Krankheit. Man kann eine Krankheit nicht einfach unterbinden, indem man nur sagt, dass man es nicht mehr machen wird. Ich sage dann immer ein bisschen provokativ, dass man an die Beratungsstelle ein großes Plakat hängen könnte, auf dem steht, dass man es einfach nur wollen müsste. Aber so einfach ist es nicht mehr. Es hat auch neurobiologische Faktoren, das heißt, im Gehirn passiert ganz viel. Suchtmittel haben oftmals ein Belohnungsverhalten. Man belohnt sich mit dem Suchtmittel, zum Beispiel dafür, dass man den Tag geschafft hat, dass man sich um alles gekümmert hat. Man sagt dann, dass man sich abends mal etwas gönnt. Und das hat eine Auswirkung. Wenn ich dann auf einmal das Suchtmittel weglasse, dann fehlt mir etwas. Dann kann ich mich nicht mehr belohnen, dann geht es mir nicht mehr gut. Das ist erst mal die psychische Komponente. Dann gibt es gerade beim Alkohol oder anderen Süchten auch noch die körperliche Komponente. Das heißt, dass man entzügig wird, dass der Körper einem sagt, dass etwas fehlt. Man ist unruhig, zappelig, bekommt Kopfschmerzen. Das ist der Grund dafür, dass man nicht einfach aufhören kann. Die Psyche verlangt danach und äußert den Zwang, jetzt konsumieren zu müssen, weil es einem nur dann gut gehen würde.

I: Die Situation, dass man im Feierabend mal denkt, dass man sich was gönnen möchte, kennen wir alle. Ist es denn so, dass es uns alle jederzeit treffen kann, oder gibt es typische Süchtige?

B: Ich glaube nicht, dass es typische Süchtige gibt. Ich habe früher Präventionsveranstaltungen in Schulklassen gemacht und habe gesagt, dass ich keinen Schalter habe, den ich drücken kann, der mich davor schützt, dass es mir nicht passiert. Ich weiß ganz viel, kenne ganz viele Geschichten, trotzdem kann es mir aber auch passieren, wenn ich das Suchtmittel einsetze, wenn ich es brauche. Der Faktor Resilienz ist aber eine Komponente, die eine Rolle spielt. Ich nenne Resilienz immer das psychische Immunsystem. Wenn man über eine gute Resilienz verfügt, wenn man in der Kindheit gelernt hat, wie man sich schützen kann, wie man die eigene Psyche schützen kann, welche Menschen man um sich herum hat, die gut auf einen aufgepasst haben, dass man weinen kann, wenn es einem schlecht geht, das sind gute Schutzmechanismen gegen eine Suchtmittelabhängigkeit. Aber trotzdem kann es jeden von uns treffen.

I: Wir haben schon darüber gesprochen, dass es die verschiedensten Arten von Süchten gibt. Wir haben Alkohol angesprochen, das Fernsehen war eben unser eher lapidares Beispiel. Man kann aber ja auch nach Drogen, Tabak oder sogar dem Smartphone abhängig werden. Oder nach Verhaltensweisen wie übermäßigem Sport oder Arbeit. In meinem Kopf ist das direkt etwas anderes, ob man nach Alkohol oder Sport süchtig ist. Aber ist das grundsätzlich von dem, was im Körper abläuft, alles gleich?

B: Die stofflichen Süchte fallen in eine andere Kategorie, weil man damit im Gehirn andere Dinge verarbeitet und es im Körper anders wirkt. Aber Kauf-, Sport-, und Arbeitssüchte haben auch ganz häufig diesen Belohnungsfaktor, dass da etwas im Gehirn ausgelöst wird und man für etwas belohnt wird. Es gibt auch die Sucht nach Medien, wo man das Gefühl hat, sich in eine andere Welt beamen zu können. Das ist sehr ähnlich. Glücksspiel ist auch nichts Stoffliches, auch da kriege ich ein High-Gefühl wie beim Sport oder der Arbeit. Das ist alles sehr ähnlich.

I: Das klingt einleuchtend. Was sind erste Anzeichen, auf die ich achten könnte, wenn ich die Befürchtung habe, dass ich vielleicht süchtig nach etwas bin?

B: Es ist schwierig, das so global zu beantworten, weil es diese unterschiedlichen Suchtmittel gibt. Aber ein wichtiges Anzeichen ist, wenn man anfängt, sich zurückzuziehen. Wenn man sich aus sozialen Kontakten zurückzieht, das ist bei allen gleich. Wenn man anfängt, Dinge zu tun, die über das normale Maß hinausgehen. Und wenn man dann anfängt, die negativen Konsequenzen, die dieses Verhalten verursacht, zu ignorieren, muss man aufpassen. Das ist ein Warnsignal.

I: Ich kann mir gut vorstellen, dass es nicht einfach ist, das alles über einen Kamm zu scheren. Es sind ja doch sehr unterschiedliche Süchte. Gibt es denn grundsätzliche Gefahren, die alle Süchte gemein haben? Also negative Auswirkungen auf das eigene Leben, die man bei jeder Art von Sucht findet?

B: Die Gefahr ist, dass man von etwas abhängig wird. In dem Moment kann man das Maß selbst nicht mehr bestimmen, man wird maßlos. Man hat dann keinen Zugriff mehr darauf.

I: Es ist also ein gewisser Kontrollverlust.

B: Genau. Und der kann bei allen Sachen passieren. Das ist eins der Diagnosekriterien einer Abhängigkeit, dass man die Kontrolle verliert. Das ist natürlich unangenehm, wenn man plötzlich nicht mehr sagen kann, dass man abends nur eine Serie guckt, sondern dann fünf guckt. Die negative Konsequenz ist dann, dass man zu wenig Schlaf bekommt, dass man bei der Arbeit unausgeschlafen ist, dass man seine Arbeit nicht mehr gut verrichten kann. Oder wenn man zu viel Alkohol konsumiert, ist man am Arbeitsplatz nicht mehr funktionsfähig. Die Gefahr der Abhängigkeit lässt sich auf die verschiedenen Suchtmittel übergreifen. Man kann nicht mehr über das eigene Leben entscheiden, sondern es entscheiden andere Dinge über das eigene Leben.

I: Wenn ich bei mir selbst erkenne, dass ich von etwas abhängig geworden bin und das ändern möchte, was kann ich denn dann tun? Sollte ich mich anderen Menschen anvertrauen? Was würden Sie als ersten Schritt empfehlen?

B: Der erste Schritt wäre, dass man sich mit anderen Menschen zusammensetzt, dass man sich austauscht und schaut, ob es nur bei einem selbst so ist, oder ob es Gleichgesinnte gibt, beziehungsweise andere das auch kennen. Wenn dann deutlich wird, dass es problematisch sein könnte, würde ich immer raten, Kontakt zu einer Suchtberatungsstelle aufzunehmen. Ich bin seit über 22 Jahren im Dienst, es hat sich ganz, ganz viel verändert. Früher waren die Suchtberatungsstellen sehr abstinenzorientiert. Man konnte nur hierherkommen, wenn man den Wunsch hatte, von dem Suchtmittel oder der Sucht wegzukommen. Mittlerweile ist es so, dass fast alle Suchtberatungsstellen zieloffen arbeiten, das heißt sie bieten Angebote an, um das eigene Konsumverhalten zu hinterfragen. Wir haben bei uns einen Kollegen, der ein Programm macht, das sich Skol nennt. Das ist ein Training zur Selbstkontrolle. Man kann es durchführen, wenn man verhaltenssüchtig ist, zum Beispiel zu viel kauft oder süchtig nach Süßigkeiten ist. Da geht es nicht um die Abstinenz, sondern darum, das eigene Verhalten zu hinterfragen und zu schauen, ob man es einschränken möchte und wie das funktionieren kann. Das ist stark verhaltenstherapeutisch, hat aber in vielen Bereichen gute Erfolge.

I: Das finde ich sehr spannend. Es geht also gar nicht immer darum, alle sofort dazu zu bringen, ganz aufzuhören, sondern wirklich individuell zu schauen, wie man eine Person am besten unterstützen kann, weil sie es nicht schaffen würde, komplett aufzuhören, man es aber so immerhin beschränken könnte.

B: Genau. Das haben Sie gut zusammengefasst, genau das ist es. Wir haben gemerkt, dass die Abstinenz zwar das Beste für die Menschen ist, sie das aber oft nicht wollen. Damit verschrecken wir die Menschen dann, dabei wollen wir ihnen helfen. Deswegen sagen wir, dass die Menschen ruhig zu uns kommen sollen, auch wenn die Abstinenz nicht das Ziel ist. Wir gucken uns stattdessen an, wie der Konsum und das Verhalten sind und an welcher Stelle wir etwas verändern können. Wenn es nicht funktioniert und die Menschen nach einigen Wochen merken, dass sie das mit der Kontrolle nicht hinbekommen, sind sie zumindest schon mal hier, haben Vertrauen gefasst und können an einem anderen Ziel, wie zum Beispiel der Abstinenz, weiterarbeiten.

I: Verstehe. Wenn ich noch nicht an dem Punkt angekommen bin, dass ich wirklich süchtig bin, mich aber in einer Vorstufe befinde, wo der abendliche Wein oder die Serie immer öfter in meinem Kopf auftaucht, was kann ich dann tun, um das Glas Wein oder die Serie wegzulassen, auch wenn es mir sehr schwerfällt?

B: Viele Klienten erzählen mir, dass sie sich Apps runtergeladen und in Eigenregie geschaut haben, wie Kontrolle aussehen könnte. Das ist zum Beispiel ein Trinktagebuch. Dort dokumentiert man den eigenen Konsum und schaut, wie viel es wirklich ist. Dann kann man schauen, ob es zu viel ist. Der Vorteil von so einem Selbstkontrolltraining ist, dass der Konsum meistens automatisch dadurch schon weniger wird. Man denkt zum Beispiel, dass es gestern drei Gläser gewesen sind, und man es deshalb heute bei einem Glas belassen sollte. Dieser Effekt kommt bei vielen Menschen vor, aber nicht bei allen.

I: Das kann ich mir gut vorstellen. Häufig ist es so, dass es einem nicht richtig bewusst ist. Und das selbst bewusst Machen hilft einem dann sehr. Das kenne ich aus meinem Umfeld von Menschen, wo plötzlich die Frau im Hintergrund getrackt hat, wie viel Bier der Mann trinkt. Sie hat das dem Mann am Monatsende aufgezeigt und der war sehr überrascht, wie viel Bier es dann wirklich war. Das hat ihm geholfen, weniger zu trinken.

B: Genau. An eine Frau erinnere ich mich gerade, die sehr an IT interessiert ist. Sie hat sich eine App runtergeladen, diese hat dann zusätzlich ausgerechnet, wie viel Geld die Frau spart, wenn sie weniger trinkt. Das war auch ganz spannend, dass sie am Monatsende gesehen hat, wie viel Geld sie eingespart hat. Das war für sie ein ordentlicher Anreiz, um weniger zu trinken.

I: Das finde ich spannend. Das zeigt, dass man den individuellen Punkt bei sich selbst finden muss. Was ist das, was einen selbst am meisten stört? Ist es, dass man weniger Geld zur Verfügung hat? Ist es, dass die eigenen Gedanken so dominiert werden? Würde man lieber Zeit mit den eigenen Kindern verbringen, kann das aber gerade nicht? Wenn man den für sich selbst größten Schmerzpunkt identifiziert, kann das sehr stark helfen.

B: Genau. Das ist das, was wir hier immer wieder thematisieren. Wenn man einen gewissen Leidensdruck hat, steigt auch die Veränderungsmotivation. Wenn man nicht leidet, warum sollte man dann was verändern? Das ist eine ganz klare Gleichung: Man verändert nur etwas, wenn man in einer gewissen Weise leidet. Bei uns rufen relativ viele Angehörige an und fragen, was sie tun können, wenn zum Beispiel der eigene Partner trinkt. Im Gespräch können wir dann immer nur sagen, dass die Angehörigen nicht helfen können. Die Entscheidung, etwas verändern zu wollen, muss der Betroffene selbst treffen. Aber man kann versuchen, den Leidensdruck zu erhöhen, indem man beispielsweise sagt, dass man mit dem Betroffenen nicht telefoniert, solange er betrunken ist. Oder dass man eine Auszeit braucht oder sogar möchte, dass der Betroffene geht. Dann merken die Betroffenen, dass es nicht mehr weitergeht, dass sie etwas verändern müssen. Dann fangen sie an, nach Hilfe zu suchen.

I: Super, dass Sie das Thema der Angehörigen angesprochen haben. Für die ist es natürlich ganz schwierig, damit umzugehen, weil sie unbedingt helfen möchten. Aber es ist sehr schwer, von außen etwas daran zu tun, wenn bei dem Betroffenen keine intrinsische Motivation da ist. Deswegen finde ich den Vorschlag sehr gut, dass man den Kontakt zu Ihnen sucht, sich aber dabei dessen bewusst ist, dass man selbst nicht dafür verantwortlich ist und die Situation des Betroffenen nicht alleine ändern kann.

B: Genau. Unsere Angehörigenberatung sieht so aus, dass wir mit den Angehörigen darüber sprechen, wie sie gut für sich sorgen können. Also was sie dafür machen können, damit es ihnen besser geht, damit sie nicht so sehr drunter leiden. Man kann den Betroffenen nicht groß helfen, sie müssen die Entscheidung von alleine treffen. Aber wir sind für die Angehörigen da und versuchen sie zu unterstützen. Wir suchen Gruppen, schauen, was sie für sich tun können, wie sie gut für sich sorgen können. Das ist ein ganz, ganz wichtiger Punkt, dass die Angehörigen nicht so sehr darunter leiden und womöglich auch krank werden.

I: Aber Sie würden schon dazu raten, es bei der Person anzusprechen, oder besteht dann die Gefahr, die Person noch weiter von sich wegzustoßen?

B: Natürlich immer ansprechen, das ist ganz wichtig. Aber die Konsequenz ist ganz häufig so, dass der Betroffene dann erst mal auf Abstand geht. Das kann passieren. Muss nicht, aber es kann passieren. Ich habe es schon häufig erlebt, dass der Betroffene sich eher zurückzieht, wenn Angehörige es ansprechen. Aber das kann beim Betroffenen den Leidensdruck erhöhen und kann dafür sorgen, dass etwas passiert und sich etwas verändert.

I: Wenn ich in meinem Alltag mittlerweile ganz gut mit meiner Sucht klarkomme, es eigentlich im Griff habe, es aber immer wieder Herausforderungssituationen gibt, die dazu führen, dass es mich zurückwirft, was kann ich dann machen?

B: Wir schauen immer, welche alternativen Möglichkeiten es gibt. Das ist auch ein Thema, was wir in der Therapie bei uns besprechen. Wir gucken immer, welche alternativen Bewältigungsstrategien ich habe, wenn ich Stress habe. Natürlich ist das von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Es gibt Frauen, die in den Wald gehen und schreien. Es gibt Frauen, die auf ein Kissen einschlagen. Es gibt Frauen, die sich ein Chili-Bonbon in den Mund werfen. Es gibt Frauen, die sofort zum Telefonhörer greifen und jemanden anrufen. Tatsächlich gibt es da nicht das eine Patentrezept. Sondern das ist etwas, das wir in der Therapie und Beratung sehr individuell mit den Menschen entwickeln. Wir schauen, welche Methode hilft. Ich habe gerade ein paar Beispiele genannt, aber es gibt noch ganz, ganz viele mehr. Diese Bewältigungsstrategien sind ein ganz großes Thema. Es ist eins der Hauptthemen, das wir in der Therapie mit den Frauen bearbeiten. Was sie tun können, wenn sie unter Stress sind. Was sie tun können, wenn sie im Streit mit ihrem Partner sind. Es gibt da Hard-Skills, wie zum Beispiel dieses Chili-Bonbon. Man kann mit Gerüchen arbeiten, tatsächlich auch mit Schmerzen. Es gibt weiche Skills wie einen Handschmeichler oder einen schönen Stoff, den man anfasst, oder einen Duft, den man riecht, um wieder auf den Boden der Tatsachen kommen zu können. Wenn man unter Stress steht, signalisiert das Gehirn nämlich sofort, dass das Suchtmittel hilft. Und da sind diese Skills ganz gut als Soforthilfe, um wieder in die Realität zu kommen. Dass die Menschen merken, dass ihr Suchtmittel gar nicht hilft, sondern dass sie dann wieder da sind, wo sie schon mal waren, und da eigentlich nicht mehr hin wollen. Wir erarbeiten so Notfallkoffer, wo ein paar von diesen Skills enthalten sind. Vielleicht ist auch eine Karte mit einem Spruch oder einem Gedanken enthalten, der helfen kann. Zum Beispiel: „Seitdem ich nicht mehr konsumiere, geht es mir so.“ Das ist ganz, ganz unterschiedlich.

I: Das sind super Tipps, die man für sich in den Alltag mitnehmen kann, wenn man bei sich schon eine Tendenz bemerkt. Wirkt das denn nur bei Substanzen, oder zum Beispiel auch wenn man das Gefühl hat, dass man viel zu oft aufs Handy schaut?

B: Das kann man für alle Suchtmittel übertragen, muss aber gucken, was für einen selbst gut. Das kann sehr individuell sein. Beim Handy kann man versuchen, es mal komplett auszustellen, damit man nicht draufguckt. In der Forschung hat man herausgefunden, dass diese Phasen von Suchtdruck zehn bis 15 Minuten dauern, dann ebben sie wieder ab. Ich finde, dass das sehr beruhigend ist. Man muss also nie anderthalb Stunden mit diesem Gefühl oder dieser Anspannung leben, dass man unbedingt etwas konsumieren muss, sondern es ebbt relativ schnell wieder ab, wenn man eine gute Ablenkung findet oder einen guten Skill hat.

I: Das ist sehr beruhigend zu wissen. Ich habe dieses Jahr mal ein handyfreies Wochenende gemacht. Es war am Anfang ganz, ganz schwierig. Aber als es sich dann im Kopf gelegt hatte, ging es wirklich gut. Ich kann das also bestätigen.

B: Ja, das stimmt. Mir ist neulich mein Handy kaputtgegangen. Ich hatte dann eine Woche lang mein Handy nicht. Mir ist deutlich geworden, dass ich früher kein Handy hatte und das auch funktioniert hat.

I: Das stimmt. Vielleicht hilf es einem manchmal, wenn man zu seinem Glück gezwungen wird. (lacht) Gibt es etwas, wie man Kinder davor schützen kann, später eine Sucht zu entwickeln? Also irgendwelche Verhaltensweisen, die man in der Erziehung anwenden kann? Viele Eltern kennen es, dass sie ihre Kinder nicht vom Fernseher oder von einem Spiel wegbekommen. Aber die Frage zielt darauf ab, ob man gezielt etwas tun kann, damit das eigene Kind später nicht zum Beispiel zum Alkoholiker wird?

B: Es ist wichtig, dass Kinder selbstbewusst werden. Dass sie sagen, wer sie sind, was sie können und was sie nicht können. Und auch dazu stehen, wenn sie Sachen nicht können. Dazu gehört auch eine Frustrationstoleranz. Man kann nicht in allen Sachen gut sein. Es ist wichtig, dass Kinder das lernen. Wenn Kinder immer sehr unter Leistungsdruck stehen, ist das nicht gut. Das A und O ist die Emotionalität. Es ist ganz, ganz wichtig, dass Kinder das Gefühl haben, dass sie geliebt werden. Und das, weil sie so sind, wie sie sind und nicht, weil sie irgendeine Leistung erbracht haben. Das begegnet uns häufig in unserer Arbeit. Frauen wurden nicht geliebt, berichten aus ihrer Kindheit und sagen, dass sie das Gefühl haben, dass ihre Eltern sie nur liebten, wenn sie eine gute Klausur nach Hause gebracht haben. Das begegnet uns ganz, ganz häufig. Kinder müssen spüren, dass sie bedingungslos geliebt werden. Und dass sie auch in Dingen mal nicht so gut sein können. Das ist der Hauptfaktor, um eine gute Resilienz bekommen zu können. Dass sie lernen, dass sie mit Schwierigkeiten zu jemanden kommen können, und es auch erzählen dürfen, weinen dürfen, wenn es ihnen schlecht geht. Sich ausweinen oder über seine Probleme sprechen, ist gerade bei Männern verpönt, aber es ist ganz wichtig, dass im Kindesalter gelernt wird, dass das in Ordnung ist. Das ist etwas ganz Grundsätzliches, das Kinder brauchen, um starke Persönlichkeiten werden zu können, die nicht so leicht durch Substanzen zu beeinflussen sind.

I: Gibt es irgendwas, das bis jetzt zu kurz gekommen ist, das Ihnen noch wichtig für unsere Hörerinnen und Hörer wäre?

B: Das Wichtigste ist, sich frühzeitig Hilfe zu holen, frühzeitig das Gespräch zu suchen. Man kann frühzeitig sehr viel erreichen. Es gibt die Möglichkeit, über Facebook oder Instagram die Beratungsstellen zu kontaktieren. Besser frühzeitig mal zum Handy greifen und nachfragen, ob das eigene Suchtverhalten noch im Rahmen ist, oder ob man doch schon drüber ist. Es gibt kein zu früh, aber es gibt ein zu spät.

I: Wenn du nach der als Zuhörer nach der Folge denkst, dass du dein Konsumverhalten im Blick behalten solltest, kann ich dir nur das Onlinetraining empfehlen: Hello better, weniger trinken. Das steht Versicherten der Audi BKK kostenlos zur Verfügung und lässt sich ganz bequem zu Hause vom Sofa aus machen. Es gibt fünf Trainingslektionen, optional kann man aber noch mehr Ergänzungsoptionen machen. Es geht also ganz schnell, oder auch ein bisschen umfangreicher, je nachdem was zu dir passt. Du findest dort Selbsttests, eine Online-Tagebuch und vieles mehr. Den Link findest du in den Shownotes. Damit geht ein weiteres Jahr von Von Achtsam Bis Zuckerfrei vorbei. Wir hören uns dann im Februar wieder, wenn wir über Trauerbewältigung und Krisenmanagement sprechen. Wir hoffen, die Folge hat dir gefallen. Empfehle uns gerne weiter und abonniere den Kanal, um im Februar nicht zu verpassen, wenn es weitergeht. Wir wünschen dir eine wunderschöne Weihnachtszeit. Lass dich nicht stressen, genieße die schönen Seiten und komme gut ins neue Podcast-Jahr. Alles Gute.

 

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